Liebe Freunde,
Der Schmerz, der Schock und die tiefe Trauer erfüllen während den letzten Tagen unseren Alltag.

Bilder und Videos von kaltblütig ermordeten Menschen kursieren durch die Welt. Es lähmt uns; es macht uns einfach sprachlos. Wir verstehen nicht, wie Menschen so etwas tun können. Wir haben sehr viele Fragen, und viel zu wenig Antworten. Der Schock sitzt immer noch sehr tief.

Die Welt wurde letzten Schabbat Zeuge einer der schlimmsten Barbareien gegenüber wehrlosen und unschuldigen Menschen seit dem zweiten Weltkrieg. Binnen kürzester Zeit wurde ein Massaker an mittlerweile mehr als 1000 Menschen verübt und die Zahl der Opfer steigt täglich, und all dies nur, weil sie Juden sind oder in Israel leben. Junge Menschen, alte Menschen, Frauen, Männer, Kinder, ganze Familien wurden brutal misshandelt und regelrecht hingerichtet. Mehr als 100 wurden nach Gaza verschleppt – ihr Schicksal ist bis heute ungewiss.

Der Schock sitzt noch sehr tief und wird uns Juden in Gedenk – und Trauerfeiern auf ewig in der Zukunft begleiten. Unsere Gebete und unsere Gedanken sind heute mit den Angehörigen dieser Personen.

Aber leider ist all das nicht neu für uns Juden. Tausende von Jahren waren wir Juden nur Opfer – doch damit ist jetzt Schluss, denn die Zeiten haben sich nun geändert. Wir haben Israel, wir haben eine Armee und über alldem haben wir den Ewigen, der uns seit 3500 Jahren überleben gelassen hat und immer wieder aus der Asche wiederauferstehen lässt. Einst fragte Napoleon seinen Berater: «Geben Sie mir einen Beweis dafür, dass Gtt tatsächlich existiert?». Daraufhin der Berater: «Die Juden, meine Majestät!»
Wir verstehen nicht die Wege Gttes und es wäre aus meiner Sicht auch falsch nach kausalen Erklärungen zu suchen.

Doch eines steht fest: Die Hamas, der Iran und andere Feinde Israels haben sich dieses Mal hoch verkalkuliert und einen sehr grossen Fehler begangen, für den sie nun bezahlen werden. Ein ranghohes Mitglied der Hamas meinte vor einigen Tagen, man habe seit Monaten u.a. die Proteste in Israel beobachtet und die Zersplitterung innerhalb der Gesellschaft für diesen Angriff für sich ausgenützt. Es stimmt, wir waren leider zersplittert und zerstritten, doch die Hamas hat vergessen, was unsere Gelehrten schon vor 2000 Jahren im Talmud gesagt haben: «Israel wird mit einer Olive verglichen: Umso mehr man es presst, desto reineres Öl kommt hinaus!»

Wir mögen ein Volk sein, dass viel streitet, aber seit eh und je, wenn es um unser Schicksal und unser Überleben geht, sind wir vereint wie ein Volk und eine Seele. Das jetzige Leid brachte uns wieder vereint zusammen. Sicher – es hätte anders passieren können; wir hätten auch ohne alldem Leid zueinander finden müssen – doch es ist nun, wie es ist, und Tatsache ist, dass unser Volk wieder vereint ist, mit einer Einheitsregierung in Israel und einem starken Militär, bereit in den Kampf für unser Überleben zu ziehen.

In diesem Krieg geht es nicht nur um die Bewohner Israels, es geht um alle Juden auf dieser Welt und um alle Menschen, die in einer freien und gerechten Welt leben wollen. Es geht um die Verteidigung der Menschlichkeit, der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit.

Wir haben am Schmini Azeret, dem Tag, an dem dieses schreckliche Massaker passiert ist, im Buche Kohelet gelesen: «Es gibt eine Zeit für Krieg und es gibt eine Zeit für Frieden».

Liebe Freunde, Krieg ist etwas sehr Schreckliches, aber es braucht auch oftmals Stärke und leider auch einen Krieg, um wieder Ordnung und Frieden herzustellen. Wir sprechen am Ende vom Bentschen den Vers: «Haschem Os leAmo jiten, Haschem jewarech et Amo baSchalom – Möge der Ewige seinem Volke Kraft geben, möge der Ewige sein Volk mit Frieden segnen.»

Ich habe diesen Vers nie richtig verstanden: Warum braucht man zuerst Kraft und erst dann Frieden? Doch jetzt verstehen wir es: Es braucht manchmal die Ausübung der Kraft, um Frieden zu schaffen.

Möge der Ewige den Trauernden Trost spenden, die Kranken heilen und die Gefangenen schnell wieder befreien – aber das allein reicht in dieser Zeit nicht aus; es reicht nicht aus nur das Opfer zu sein und nur über unsere Verluste zu trauern, denn genau das wollen doch diese Unmenschen sehen; vielmehr sollen wir gemeinsam auch für unsere Einheit, unseren Sieg und unsere Stärke beten, wir werden dafür beten, dass Gtt den Streitkräften Israel die Kraft geben soll das Böse so stark zu zerschlagen, dass es nie wieder zurückkehren kann, damit es endlich Gerechtigkeit und Frieden in Israel gibt. Wir werden dafür beten, dass das Gute das Böse besiegen soll, dass das Licht die Dunkelheit verdrängen soll und dass es endlich Frieden in Nahost geben soll.

Viele von uns haben Verwandte, Freunde und Kinder in Israel. Viele unserer Bekannten haben Familienmitglieder, die heute als Soldaten an der Front kämpfen und unser Land verteidigen. Möge der Ewigen mit Ihnen sein und sie heil und gesund wieder heimkehren lassen.
«Haschem Os leAmo jiten, Haschem jewarech et Amo baSchalom – Möge der Ewige seinem Volke Kraft geben, möge der Ewige sein Volk mit Frieden segnen.»

Rabbiner Moshe Baumel
Rosh Beit Midrash des Rabbinerseminars zu Berlin