Anrede,
Sie, Shlomo Aminov, und Sie, Jakov Pertsovsky, werden in Zukunft Ihren Gemeinden Bonn und Chemnitz geistige Führer sein. Sie werden Ihre Gemeindemitglieder lehren, sie betreuen und ihnen ein Ansprechpartner in religiösen, aber auch in ihren alltäglichen Fragen jüdischen Lebens sein. Sie werden ihre Freuden, aber auch ihre Sorgen teilen. Kurzum: Sie werden ihr Rebbe sein.

Dass Ihre Ordination in meiner Heimatstadt Würzburg stattfindet, bedeutet mir sehr viel; denn hier lebte und lehrte im 19. Jahrhundert Seligmann Bär Bamberger, der berühmte „Würzburger Raw“.

In der großen Auseinandersetzung zwischen er Orthodoxie und dem immer stärker werdenden liberalen Zweig des Judentums im 19. Jahrhundert vertrat er, gerade 29 Jahre alt, entschieden die Orthodoxie, und er tat es auf seine Weise: modern, aber dem traditionellen Judentum verpflichtet. Dadurch fiel er dem alten Würzburger Rabbiner Abraham Bing auf, der sich den jungen Mann als seinen Nachfolger wünschte.

Raw Seligmann Bär Bamberger stellte sich zur Wahl und wurde mit großer Mehrheit zum Distriktsrabbiner von Würzburg und 29 unterfränkischen Dörfern gewählt. Bis zu seinem Tode am zweiten Tag Sukkoth 1878 lebte und lehrte er als Würzburger Rabbiner, zu dem aus ganz Deutschland Studenten kamen. Die Erziehung der Jugend im jüdischen Glauben lag ihm sehr am Herzen, so dass er nach der Gründung einer Talmudschule schließlich 1856 die „Israelitische Erziehungs- und Unterrichtsanstalt“ gründete, eine sechsklassige Volksschule für Jungen und Mädchen. Es folgte acht Jahre später das erste Lehrerseminar, die „Israelitische Lehrerbildungsanstalt in Würzburg“.

Ich erzähle Ihnen dies nicht aus einem Gefühl des Lokalpatriotismus, sondern weil ich besonders Ihnen, meine Herren Rabbiner Aminov und Pertsovsky, die Erinnerung an den großen Würzburger Raw ans Herz legen möchte. Es ist ein guter Leitgedanke – Modern, aber dem traditionellen Judentum verpflichtet – der auch für die Vielzahl heutiger jüdischer Gemeinden in Deutschland wichtig ist.

Was bedeutet heute: modern, aber der Tradition verpflichtet? Vor zwei Jahren wollten uns manche Menschen weismachen: ein modernes Judentum kann die Beschneidung abschaffen. Die Beschneidung sei archaisch und könne durch eine symbolische Handlung ersetzt werden, lasen wir in nicht wenigen Zeitungen.

Das ist jedoch ein völlig falsch verstandener Begriff von Moderne. Das entspräche mitnichten dem Leitgedanken von Rabbiner Bamberger. Modern bedeutet nicht, sich einem vermeintlichen Zeitgeist zu unterwerfen. Modern bedeutet nicht, sich bedingungslos der Mehrheit anzupassen.

Modern heißt: Äußere Bedingungen verändern sich, und das ignorieren wir nicht. Wir leben mit unseren Traditionen, aber nicht von der Welt abgewandt.
Warum also nicht auf Facebook zum Gottesdienst einladen? Warum sollten wir uns gegen eine Friedhofs-App wehren, die die Suche nach Gräbern der Vorfahren erleichtert?

Modern sein, ohne willkürlich zu werden – das geht überhaupt nur mit festen Wurzeln. Wir bleiben unseren Traditionen verpflichtet. Deshalb haben wir 2012 das Recht auf Beschneidung so vehement verteidigt.
Deshalb erklären wir unseren jungen Mitgliedern, warum sie an Schabbes ihre Smartphones ausgeschaltet lassen. Dass sie 24 Stunden offline überleben können. Und dass sie sich in dieser Auszeit vom Alltag auf ihre Wurzeln, auf ihren Glauben zurückbesinnen können, dass sie sich aufs Wesentliche konzentrieren.
Und plötzlich finden wir diesen Gedanken in Manager-Ratgebern wieder – ganz modern, aber der uralten jüdischen Tradition entsprechend.

Die Modernität verlangt uns manchmal viel ab. Die Globalisierung stellt uns vor große Herausforderungen.

Gestatten Sie mir, sehr geehrte Damen und Herren, an dieser Stelle einen kurzen Ausblick auf ein aktuelles Thema:

In einem Ausmaß, wie wir es lange nicht kannten, klopfen Flüchtlinge an die Türen Europas, an die Türen Deutschlands.
Wenn jemand weiß, was es bedeutet, die Heimat verlassen zu müssen, alles zurückzulassen, sein Hab und Gut zu verlieren, ja, vielleicht sogar die eigene Familie, dann ist das die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Eine humane Flüchtlingspolitik, die Türen öffnet statt das Land abzuschotten, ist uns daher ein Herzensanliegen.

Flüchtlinge mit den schrecklichen Erfahrungen von Krieg und Vertreibung seien in Würzburg willkommen, sagte jüngst unser Oberbürgermeister, Sie, lieber Herr Schuchardt. Ich kann das voll unterstreichen. Und ich habe es auch sehr begrüßt, dass Sie den Empfang der Stadt für den Bund der Vertriebenen abgesagt haben, weil dort ein Politiker der Republikaner als Hauptredner auftreten sollte.

Doch zurück zu unserem eigentlichen Anlass:
Lieber Rabbiner Aminov, lieber Rabbiner Pertsovsky,
ich möchte Ihnen als junge, traditionell-orthodoxe Rabbiner gerne noch einen Satz von Raw Bamberger mit auf den Weg geben. Der Würzburger Raw sagte: “Genau wie es verboten ist, das Verbotene zu erlauben, ist es verboten, das Erlaubte zu verbieten.“

Das Verbotene nicht erlauben, aber auch nicht das Erlaubte verbieten – sondern: Schauen, was möglich ist; Wege aufzeigen – das wird als Gemeinderabbiner ganz wesentlich zu Ihren Aufgaben gehören.

Zum Glück stehen Sie nicht alleine. Sie haben erfahrene und – hoffentlich – engagierte Gemeindemitglieder um sich herum. Vor allem aber – und das möchte ich an diesem Tage besonders hervorheben – haben Sie Ihre Rebbetzin. Chaya Aminov wird ihren Mann nach Bonn begleiten. Rachel Pertsovsky wird in Chemnitz an der Seite ihres Mannes sein. Wir wissen, wie wichtig eine Rebbetzin für die Gemeinde ist, wie viele Aufgaben sie übernimmt. Zugleich ist sie die wichtigste Stütze für ihren Mann. Frau Aminov ist Mathematikerin – Kenntnisse von Zahlen muss ein Rabbi immer haben. Frau Pertsovsky studiert Pädagogik – nun, wie häufig auch ein Rabbiner pädagogische Fähigkeiten braucht, muss ich hier nicht weiter erläutern.

Das Hildesheimer Rabbinerseminar, das Sie ausgebildet hat, wurde bereits 1873 gegründet und von den Nazis 1938 geschlossen. 2009 wurde es vom Zentralrat der Juden in Deutschland, als dessen Vizepräsident ich zu Ihnen spreche, gemeinsam mit der Ronald S. Lauder Foundation wieder ins Leben gerufen.

Seither hat es Rabbinerordinationen von Absolventen des Seminars in München, Leipzig und Köln gegeben. Diese jungen Rabbiner, wie auch Sie beide, hat die Jüdische Gemeinschaft in Deutschland dringend gebraucht, und sie haben und werden sie bereichern.

Seit der Zuwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ist die jüdische Gemeinschaft auf ein Vielfaches gewachsen, und der Bedarf an Rabbinern hält an.
Viele Gemeinden wurden seit Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts neu oder wieder gegründet. Jüdische Kindergärten, jüdische Schulen, Jugendzentren, Elternheime – das jüdische Leben ist wieder breit gefächert in Deutschland. Und es braucht seelsorgerische Begleitung.

Sie beide werden mit dazu beitragen, dass sich fast 70 Jahre nach dem Ende der Shoah das blühende jüdische Leben in Deutschland weiter etabliert. Und so wünsche ich Ihnen für Ihr hohes verantwortungsvolles Amt den Segen Haschems und möchte noch einmal die große Freude betonen, die die Ordination junger Rabbiner für alle Juden in Deutschland bedeutet.

-Es gilt das gesprochene Wort-